Lee hatte bereits von dem Stuhl geschwärmt. Sehr bequem sei der neue Ottomane, voll elektrisch und beliebig verstellbar. Gleich als der Wundersessel im Wert von
30.000 Euro geliefert worden war, hatte Lee darin Platz genommen und an all den Knöpfen gespielt. Bis seine türkische Freundin ihn des Raumes verwies. Sie fürchtete, der ehemalige Rugby-Spieler
aus Wales, der in der Marina auf einem Segelboot lebt, würde das gute Stück kaputt spielen.
Als ich Wochen später auf dem Stuhl Platz nehme, stehen mir Schweißperlen auf der Stirn. Eigentlich ist das untertrieben, der Schweiß mäandert wie der Amazonas bei Hochwasser durch mein Gesicht. Ich bin gefüllt in ein weißes Büßergewand, mein blondes Haar versteckt sich unter einer Haube, an den Schuhen trage ich Plastiküberzieher. Kurz versuche ich noch an Lees Worte zu denken und herauszufinden, ob der Sessel wirklich so bequem ist. Aber das grelle Licht, das mir ins Gesicht blendet, bündelt meine Gedanken wie ein Laserstrahl auf nur ein Szenario: Schmerzen. Lees Freundin, auf deren Wunderstuhl ich gerade sitze, ist Zahnärztin. Auch wenn ich bei meinen Türkischkurs das Kapitel „Beim Zahnarzt“ noch nicht durchgenommen habe, kann ich die wenigen Worte, die die Zahnärztin an ihre Assistentin richtet sehr gut verstehen. Wobei es weniger die Worte sind, vielmehr ist es ihre Mimik. Sie passen zu den Schmerzen, die ich seit langem aushalte. Mal stark, mal kaum spürbar. Aber immer irgendwie da. Wie die meisten Männer glaube ich an die Selbstheilungskräfte bei Zahnschmerzen. Wie alle Männer muss ich zugeben, dass es sie nicht gibt. So sehr ich das auch wünsche.
Vor zweieinhalb Jahren, es waren meine letzten Wochen in Deutschland, saß ich das letzte Mal auf einem Zahnarztstuhl. Aus der Zahnreinigung wurde erst eine Parodontose-Behandlung, aus dem prophylaktischen Röntgenbild eine Bestandsaufnahme des Grauens. Mit sehr ernster Miene erklärte mir Frau Doktor, dass ein bereits verkronter Backenzahn im rechten Oberkiefer gezogen und durch ein Implantat ersetzt werden müsse. Mit ihrem Kuli deutete sie auf das schwarzweiße Abbild eines Gebisses mit einer markanten Zahnlücke. Keine Frage, das war meine Kauleiste. „Sehen Sie den Schatten hier?“, fragte die Frau in Weiß. Ich nickte, auch wenn ich nichts sah. Ebenso wenig wie ich etwas spürte. Für mich war der Zahn vollkommen okay. Skeptisch wurde ich, als die Dame mir eine Zahnärztin am anderen Ende Berlins empfahl. „Aber ich könne doch“, fragte ich behutsam nach, „auch zu jedem anderen Spezialisten gehen.“ In Hamburg hätte ich einen sehr guten Zahnarzt, der mir bereits ein Implantat verpasst hatte. Die Ärztin kräuselte die Stirn. Ja, theoretisch schon. Aber sie könne mir nur raten, ihre wirklich, wirklich gute Kollegin in Berlin aufzusuchen, mit der sie sehr gut zusammenarbeite. Als Privatpatient ahnte ich bereits, wie die Zusammenarbeit aussehen könnte - nämlich im Aufteilen der üppigen Honorare.
Wie gesagt, wider besseren Wissens vertraute ich lieber auf die magischen Selbstheilungskräfte meiner Zähne. Außerdem hatte ich auch gar keine Zeit mehr für eine langwierige Zahnbehandlung. In wenigen Wochen würde ich Deutschland den Rücken kehren und auf ein Boot in der Türkei ziehen. Und dort, da war ich mir sicher, würde es auch Zahnärzte geben. Oder zumindest einen Hofschmied auf dem Marktplatz mit einer großen Zange, desinfiziert über der offenen Flamme eines lodernden Feuers.
Natürlich sollte ich Recht behalten. Monate vergingen ohne Zahnschmerzen. Es dauerte ungefähr ein Jahr, dann schlichen sie sich leise an, klopften zaghaft ans Zahnfleisch - aber gerade so, dass sie zu ertragen waren. Dann waren sie wieder weg. Und kamen Wochen später wieder, blieben länger, ehe sie wieder verschwanden. Es war die Zeit, in der ich immer noch daran glaubte, dass sie eines Tages gar nicht mehr wiederkommen würden. Aber kaum hatten wir den Hafen verlassen, um ein paar Wochen zu segeln, sagten sie wieder Hallo. Und dann als der Lockdown im Frühjahr kam, die Arztpraxen geschlossen hatten, blieben sie erstmals länger da. Als die Praxen wieder öffneten, waren sie weg. Und was macht man als vorausschauender Mann in so seiner Situation? Logisch, abwarten und beobachten! Nichts überstürzen. Schon gar keinen unnötigen Zahnarztbesuch.
Umso entsetzter war ich, als meine Freundin in einem Akt ungeheuren Ungehorsams über meinen schmerzenden Schädel hinweg, einen Termin bei der ortsansässigen Zahnärztin ausmachte. War das wirklich nötig? Denn natürlich verflüchtigten sich die Schmerzen just an dem dramatischen Tag. Für mich, ganz klar, ein Wink des Schicksals, dass endlich die Selbstheilungskräfte ihren Dienst angetreten haben. Und so überlegte ich kurz, es den Schmerzen gleich zu tun und mich zu verflüchtigen. Allein mir fehlte der Mut dazu. Die Rache der Freundin wäre furchtbar gewesen.
Also sitze ich eines schönen Tages auf diesem noch schöneren Zahnarztstuhl, draußen scheint die Sonne von einem strahlend blauen Himmel, während der helle Halogenstrahl meinen Mund bis ins kleinste Detail ausstrahlt. Doch das, was die Zahnärztin sieht, gefällt ihr anscheinend gar nicht. Sie will es nochmals beleuchten. Diesmal mit Röntgenstrahlen. Schwuppdiwupp habe ich eine kleine Platte an der Backe und schon wenige Sekunden später erstrahlt mein prächtiges Gebiss in schwarzweiß auf dem Monitor oberhalb des Wunderstuhls. Nur mit einem Unterschied zu dem Bild von vor zwei Jahren. Jetzt erkenne sogar ich die Schleier an der Zahnwurzel, die, wie die Zahnärztin in ruhigen Worten erklärt, auf eine Entzündung hinweisen. Sie runzelt die Stirn, schaut mitleidig in mein schweißgebadetes Gesicht und sagt mit bedrückter Stimme: „So leid es mir tut, den kann ich nicht mehr retten. Der muss raus.“
Es scheint, als sei sie überrascht, als die Überraschung meinerseits ausbleibt. „Das hatte ich befürchtet“, sage ich. „Das hat die Zahnärztin vor zwei Jahren auch schon gesagt.“ „Vor zwei Jahren“, wiederholt die Frau in Weiß etwas ungläubig. Dahinter setzt sie gefühlt drei, nein, mindestens fünf Fragezeichen. Dann stöhnt sie auf. „Typisch Mann! Warum könnt ihr nicht einmal auf einen Arzt hören?“ Und dann erklärt sie, dass ich gerade noch rechtzeitig in die Praxis gekommen bin. Wahrscheinlich nur ein paar Wochen später hätte die Entzündung auf die benachbarten Zähne übergreifen können. „Sollen wir den Zahn gleich ziehen oder einen neuen Termin vereinbaren?“, fragt sie mich.
Der Fluchtreflex ist groß, die Gelegenheit günstig - schließlich schmerzt der Zahn ja an diesem Tag nicht. Aber, ganz Mann, sage ich: „Ziehen wir ihn gleich.“ Die salzige Schweißperle, die gerade über meine Wange rinnt, konterkariert dabei nur leicht meine wilde Entschlossenheit. Behutsam setzt die Zahnärztin die Spritze, injiziert an mehreren Stellen, sehr langsam, sehr sorgsam. Wahrscheinlich ist es überflüssig zu sagen, aber ich hasse Spritzen. Das mag daran liegen, dass ich als Jugendlicher einmal in Ohnmacht gefallen bin, als der Arzt in einer brutalen Aktion mit einer feinen Nadel einmal in meine Fingerkuppe gepikst hatte, um mir einen Tropfen Blut zu stehlen. Das Trauma ist bis heute nicht überwunden.
Nun denn: Diesmal merke ich kaum die Nadel und auch das Ziehen des Zahns ist fast angenehm. Es dauert ein paar Minuten, weil sich die langen Wurzeln gegen die Extraktion zur Wehr setzen, aber die ganze Behandlung - ich kann es nicht anders sagen - ist erstaunlich unaufgeregt. Die Zahnärztin versorgt das klaffende Loch, gibt ihre Handynummer, sollte es zu irgendwelchen Komplikationen oder Schmerzen kommen, soll ich mich sofort anmelden. Falls herkömmliche Schmerztabletten nicht ausreichen sollten, will sie mir ein Rezept geben. Doch es kommt anders. Selbst als die Spritze nachlässt, sind die Schmerzen gut auszuhalten - auch ohne jedes Medikament. Die Wunde heilt prächtig, das einzig Peinigende ist der Verzicht auf Zigaretten für die ersten sechs Stunden.
In zehn Tagen soll ich zur Nachkontrolle kommen. Wieder ist das Wartezimmer aufgrund einer ausgezeichneten Terminvergabe leer, wieder hülle ich mich in die Schutzkleidung, die die Corona-Pandemie verordnet. Kurz lasse ich den Blick aus dem Fenster über den Stadthafen wandern, dann nehme ich auf dem Wunderstuhl Platz, der grelle Halogenstrahl findet den Weg in meinen Mund. „Irgendwelche Probleme?“, fragt die Ärztin. Mit offenem Mund gurgele ich ein „ähäh“ und schüttele dabei leicht meinen Kopf. „Sieht gut aus“, sagt die Ärztin wie zur Bestätigung.
Bei dem ersten Termin hatte ich mich nach einem Implantat erkundigt. Ich weiß, dass einige Segler aus Norwegen und England, deren Boote ebenfalls in der Marina liegen, ihre Urlaube oft mit einem Besuch bei der Zahnärztin verknüpfen, um ihr Gebiss auf Vordermann bringen zu lassen - Implantate eingeschlossen. Immer waren sie mehr als zufrieden. Ich bin verwundert, als meine Frage nach dem Implantat, eher auf Ablehnung trifft. „Wirklich?“, fragt die Zahnärztin. Schließlich sei die Zahnlücke doch nicht zu sehen, außerdem sei das Einsetzen so weit hinten im oberen Rachenraum nicht optimal. Und: „Das kostet doch Geld!“ Eigentlich sei ein Implantat überflüssig. Ich bin baff. Als Privatpatient in Deutschland war ich es gewohnt, dass mir jede erdenkliche Leistung aufgeschwatzt wird. Und so entscheide mich bei dem Kontrolltermin gegen ein Implantat. Die Zahnärztin scheint zufrieden, dass ich auf ihren Rat höre.
Als ich mich im Wartezimmer der Schutzkleidung entledige, drehe ich mich beschwingt vor dem Spiegel. „Steht mir gut, oder?“, frage ich die Sprechstundenhilfe. Sie lacht. Und nickt. Gerne könne ich den weißen Einweg-Overall mitnehmen. Ich winke ab. So gut steht er mir auch wieder nicht. Doch dann entscheide ich mich um. Im Winter muss ich das Unterwasserschiff neu streichen. Da könnte ich den Schutz gut gebrauchen. Also packe ich ihn ein. Im Bootszubehörladen in Deutschland kostet er immerhin 6,99 Euro.
Dann kommt der unangenehme Teil - das Bezahlen. Aber was soll’s. Ich bin ja versichert. Zweimal saß ich auf dem Stuhl, ein Röntgenbild wurde gemacht, ein Zahn gezogen. Die Zahnärztin rechnet. „200“, sagt sie dann. Ich frage, ob ich auch in Lira bezahlen kann. Sie schaut mich irritiert an: „Ja, ja, 200 Türkische Lira.“ Jetzt bin ich verdutzt. 200 TL entsprechen rund 20 Euro. Ich will intervenieren, das sei zu günstig. Sie lächelt: „Das passt, ist ein Freundschaftspreis!“ Kurz überlege ich, noch weitere Zähne ziehen zu lassen. Das Angebot sollte ich ausnutzen. Der Reflex ist ähnlich wie an der Supermarktkasse. Auch da greife ich gerne zu Angeboten, auch wenn ich sie eigentlich nicht brauche. Aber ich lasse es dann doch.
Am gleichen Tag muss ich einen Handwerker in Berlin bezahlen, der in meiner vermieteten Wohnung das WC austauschen soll. Der berechnet 60 Euro. Nur für die Anfahrt - dabei beträgt die nur 400 Meter. Dazu kommen dann natürlich noch mal 90 Euro pro angefangener Stunde. Er brauchte etwas mehr als eine….
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