Die Lizenz zum Türken

Das "Weiße Haus" irgendwo am Wegesrand. Und der Hausherr spaziert im Garten
Das "Weiße Haus" irgendwo am Wegesrand. Und der Hausherr spaziert im Garten

Es wäre falsch zu sagen, dass sie nicht da wäre, diese leichte Skepsis. Was wäre wenn…?

 

Der Fiat erklimmt die nächsten Serpentinen. Noch scheint die Sonne. Aber in den Bergen vor uns hängen tiefe schwarze Wolken, nass wie ein vollgesogener Schwamm, die nur darauf warten die Straßen in kleine Bäche zu verwandeln. Im Schritttempo quält sich ein LKW unter der Last von Felsbrocken auf seiner Ladefläche den Berg empor, die Reifen platt, der Qualm aus dem Auspuff so dunkel wie der Himmel, der sich hinter der nächsten Biegung entlädt.

 

Unten im Tal liegt Demre, eine kleine Stadt an der Küste, in die sich aber kaum ein Tourist verirrt. Der Strand ist grau und grob wie die Architektur, die an Ostblock erinnert. Die Stadt besteht aus bröckelnden Plattenbauten, so scheint es. Bekannt ist sie für den Gemüseanbau. Ein Ort weiter, in Myra, soll der Nikolaus gelebt haben. Direkt hinter der Küstenstraße beginnen schon die einfachen Gewächshäuser. Oben, von den Serpentinen aus, sehen sie aus wie in Frischehaltefolie eingewickelte Tomaten.

 

Demre endet an einem kleinen Süßwassersee, dessen Ufer von pittoresken Fischrestaurants mit bunten, kleinen Stühlen gesäumt wird. Von dort aus schlängelt sich die Küstenstraße D-400 um jede noch so kleine Bucht. Kurve folgt auf Kurve, Anhöhe auf Anhöhe. Das Wasser in den Buchten schimmert türkis. Angler werfen ihre Ruten aus. Die Wolken bleiben im Tal von Demre gefangen. Kurz hinter dem Ort scheint wieder die Sonne. Bis Kemer sind es noch etwa zwei Stunden Autofahrt. Zwei Stunden, in denen meine Gedanken nur um die eine Frage kreisen: Was wäre wenn…?

 

Der Rucksack mir zu Füßen ist voller Unterlagen. Natürlich ist da der Antrag für die Residentship in der Türkei, die Aufenthaltsgenehmigung, die es mir ermöglichen soll, zunächst ein Jahr lang in der Türkei zu leben. Deshalb sitze ich im Auto, bin auf dem Weg nach Kemer. Das Migrationsbüro in Kaş wurde dummerweise vor wenigen Monaten geschlossen. Das nächste ist eben in Kemer. 147 Kilometer entfernt. Das Navi sagt: 2:19 Stunden. Die Fahrt (siehe Video unten) dauert trotz wenig Verkehrs und Bleifuß länger. Es werden fast Zweidreiviertel Stunden. 

 

Im gleichen Ordner wie das Antragsformular liegt der Nachweis einer türkischen Krankenversicherung, die ich trotz der deutschen Police abschließen musste, der Vertrag mit der Marina in Kaş, die meine neue Adresse ist, Kopien vom Ausweis, mit dem ich eingereist hin, vier biometrische Passbilder, die ich am Vortag habe machen lassen und natürlich der Beleg dafür, dass ich die Gebühren für die Aufenthaltsgenehmigung bereits bezahlt habe. 500 türkischer Lira, etwa 85 Euro.

 

„Hast Du Deine türkische Steuernummer dabei“, fragte Mark, der Südafrikaner vom Nachbarboot, noch kurz bevor ich nach Kemer aufbrach. „Meine Steuernummer?“ Nein, die hatte ich nicht. „Ist kein Problem, die zu bekommen“, sagte Mark wie gewohnt gelassen. „Du brauchst nur ein türkisches Bankkonto. Das bekommst Du, wenn Du… Bank… Antrag…Amt… nette Frau….Kreditkarte….Bank….Amt…. Bank…. alles kein Problem“. Ich hörte nur noch mit einem halben Ohr zu. In meinem Kopf ratterte es, im Geiste ging ich noch einmal die Anforderungsliste der Behörde durch. Von einer Steuernummer, da war ich mir sicher, hatte ich nichts gelesen. Also musste es auch ohne Steuernummer gehen. Hoffte ich. Um am Ende nicht irgendeinen Beleg zu vergessen, packte ich vorsichtshalber den halben Navigationstisch in meinen Rucksack.

 

In einem anderen Ordner habe ich nun sämtliche Bootsdokumente. Das Transitlog, den Kaufvertrag, für alle Fälle den internationalen Bootsschein und die Bootsversicherung. In einen dritten Ordner habe ich alles geworfen, was irgendwie amtlich aussah. Sogar meinen Impfpass. Nicht, dass die Tour nach Kemer am Ende an irgendeinem fehlenden Dokument scheitert. Zudem habe ich mein transportables Wifi eingepackt und das Laptop, um mich auf Wunsch des Beamten in den Account meiner Bank einwählen zu können, um zu belegen, dass ich im kommenden Jahr nicht zum Sozialfall werde. All das könnte in dem „Interview“, dass ich um 16.30 Uhr mit der Migrationsbehörde vereinbart habe, verlangt werden. Und dann war da noch die Frage nach meinem Beruf. Ich wählte: Autor. 

 

„Interview“, so wird der Termin in Kemer genannt, klingt irgendwie beängstigend. Ich habe Szenen im Kopf wie Manfred Krug damals „Auf Achse“ war, irgendwo in einer staubigen, abgelegenen Gegend in einem Büro festgehalten von schwitzenden grimmigen Männern in olivgrünen Uniformen. An der Decke drehte sich eiernd ein Ventilator. Wupp, Wupp, Wupp. Und natürlich hatte ich die Stimmen im Kopf, als ich erstmals im Bekanntenkreis von meinen Plänen erzählte, aus meinem geregelten Leben auszusteigen, um auf einem Boot in der Türkei zu leben. „In der Türkei? Bist Du wahnsinnig??? Als Journalist!“

 

Ich war mir sicher, dass entgegen der landläufigen Meinung in Deutschland eine Einreise als Tourist völlig unbedenklich ist. Etliche Male war ich bereits in der Türkei, hatte zu Studienzeiten in Palästina gelebt. Vor Ort sah das Bild jedes Mal vollkommen anders aus als die Szenarien in den Köpfen an deutschen Schreibtischen.

 

Aber die aktuelle Paranoia hinterließ bei mir winzig kleine Spuren. Was wäre wenn…? Auch als Stephan Boden, ein Segeljournalist, mich beim Bootskauf begleitete, bekam er gut gemeinte Tipps aus seinem Bekanntenkreis. „Mutig in die Türkei zu reisen. Ich hoffe, Du hast Deinen Journalistenausweis nicht dabei….“, schrieb einer auf Facebook. Andere fanden es moralisch verwerflich in diesen Staat zu reisen, wieder andere machten sich einfach Sorgen. 

 

Doch auch dieses mal ist das Bild vor Ort ein völlig anderes als aus der Ferne, wo ein kleines Mosaiksteinchen zu einem gewaltigen Bild aufgezoomt wird und alle anderen Facetten überschattet. Das, was auf diesem einen kleinen Steinchen abgebildet ist, muss nicht falsch sein, aber es ist eben bei weitem nicht das ganze Bild. 

 

„Aber was wäre wenn….?“ Noch eine knappe Stunde bis Kemer. Es regnet wieder. Ein Lkw ist von der Straße gerutscht. Ich habe keine Sorge vor irgendwelchen Problemen mit den Behörden. Aber gerade weil bislang alles so unglaublich glatt gelaufen ist, frage ich mich, wann denn der erste Dämpfer kommen mag. Wenn die Aufenthaltsgenehmigung nicht erteilt wird, gibt es dann einen Plan B? Bis Anfang Januar dürfte ich noch mit meinem Touristenvisum in der Türkei bleiben, dann dürfte ich aber erst wieder nach drei Monaten erneut einreisen - wieder für drei Monate. Und in der Zwischenzeit?

 

Mittlerweile habe ich viele Segler kennengelernt, Ausländer, die in der Türkei leben - und natürlich sehr viele Türken. Jeder sagte mir, dass es überhaupt kein Problem sei, die Residentship zu erhalten, wenn denn alle Unterlagen vorlägen. Ich werfe noch mal einen Blick in den Rucksack. Alles da. Außer der Steuernummer. 

 

Zwei Stunden vor dem Termin kommen wir in Kemer an. Eine Touristenhochburg, die mal fest in deutscher Massentourismushand war. Mittlerweile dürften die Russen die Stadt erobert haben. Zumindest zeugen die Speisenkarten und Schriftzüge an Geschäften in Kyrillisch davon. Die Stadt ist wie ausgestorben. Die Saison ist vorbei. Wie ein großer Klotz liegt das Administrationsgebäude unweit des Hafens. Um sicher zu gehen, vor dem richtigen Gebäude zu stehen, frage ich bei der Security nach. „Ikamet?“ (zu deutsch: Aufenthaltserlaubnis) Der nette Wachmann schüttelt den Kopf, begleitet mich aus dem Gebäude, weist mir den Weg um das Gebäude herum. Lars, der derzeit zu Besuch ist und mich mit seinem Leihwagen nach Kemer chauffiert hat, sucht derweil eine Toilette. Ich gehe durch die Tür. Eigentlich hatten wir aus Spaß ausgemacht, noch ein Foto zu machen, bevor ich zum „Interview“ gehe. 

 

In dem Büro sitzen vier Beamte. Ich frage, ob ich richtig sei. Ein Beamter nickt. Ob ich einen Termin habe? „Ja“, sage ich, „aber erst in zwei Stunden.“ „No problem“, sagt der Mann und winkt mich zu seinem Schreibtisch. Ich packe meine Unterlagen aus, er tippt meinen Namen in den Computer, blickt stumm auf den Bildschirm. Ob ich alle Unterlagen dabei hätte? Ich breite den Inhalt meines Rucksacks auf dem Schreibtisch aus. „Auch eine Kopie des Transitlogs?“ „Kopie nicht, aber das Original“, erkläre ich. Er brauche eine Kopie, sagt der Mann - für die Akte. Er zeigt zeigt auf einen roten Pappordner. Könne ich aber nachher machen und vorbeibringen. Ich atme auf. Der Mann geht die Unterlagen durch, spricht mit seinen Kollegen, lacht. Alles sehr entspannt. Dann nimmt er das Transitlog und legt es auf den Kopierer, der auf seinem Tisch steht. Er muss dazu nicht einmal aufstehen. Sorgfältig tippt er auf seiner Tastatur, druckt, locht und heftet ab. Nur einmal blickt er auf: „You have studied?“, fragt er. Ich bejahe. Er nickt anerkennend. „And your profession is …. writer?“ Kurz schlucke ich. Er streckt mir den Daumen entgegen. „Good!“ Noch einmal druckt er etwas aus. Ich erkenne mein biometrisches Passbild darauf und den Schriftzug „Turkiye Cumhuriyeti“, darunter „Residence Permit“. Stempel wandern über das Dokument. Bamm, Bamm, Bamm. „That’s it“, sagt der Mann. „Welcome!“ Ich frage, ob er Geld für die Kopien bekommt. Er schüttelt nur den Kopf. Nach zehn Minuten ist das „Interview“ vorbei. Ich brauche keinen Plan B. Das nächste Jahr in der Türkei ist gesichert. Schnell und unkompliziert. 

 

Am nächsten Morgen sitze ich im Cockpit der Dilly-Dally und berichte von meinen Erfahrungen einem jungen Paar. Er stammt aus Alaska, sie aus Australien. Vor vier Jahren sind sie in Florida mit einer Dufour 37 aufgebrochen, erst durch die Karibik gesegelt, dann haben sie nach Europa übergesetzt. Jetzt wollen auch sie in Kaş überwintern. Kommenden Montag müssen sie nach Kemer. Wir tauschen Erfahrungen aus. Auch sie hatten sich gefragt: „Was wäre wenn…?“. Die Sorge kann ich ihnen nehmen. Der Ami ist beruhigt. Hauptsache Trump lässt bis Montag seine Finger von Twitter.

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