Hans im Glück

Seit einer knappen Woche liege ich in der Kaş-Marina, meinem neuen Zuhause. Die Liegeplatzgebühr ist bezahlt bis Mai 2020. Kaş ist damit mein Heimathafen, meine Basis, mein Anlaufpunkt, wenn ich nicht unterwegs bin. Im Preis inbegriffen ist die Nutzung alle anderen Setur-Marinas in der Türkei (und einer auf Lesbos) - von Antalya im Osten bis nach Istanbul im Norden. Der neue Hafen mutet ein bisschen an wie eine Gated-Community in Dubai. Ein Tor mit Sicherheitskontrolle, dahinter grüne Wiesen, hohe Palmen und 450 Liegeplätze. Nicht alle vergeben. Am Ende des Hafens thront ein Luxus-Ressort mit kleinen Pavillons, von denen Badeleitern in das kristallklare Wasser führen, wie man es sonst nur von den Seychellen kennt. Wer nicht ins Meer steigen will, kann sich auch in seinen privaten Whirlpool hocken, der auf jeder Terrasse steht. 

 

Den riesigen Swimmingpool mit Blick auf das schimmernde Meer können alle Hafendauerlieger kostenlos nutzen, ebenso wie einen Tennisplatz oder den Basketballkorb. Momentan beschränke ich mich aber auf ein paar Übungen an meinem TRX-Gerät. Die ersten Bootsnachbarn haben sich auch gerade die Schlingen bestellt. 

 

Im Hafen gibt es ein türkisches Bad mit Massagen, eine tolle Bar mit Livemusik und zwei Restaurants, einen Schiffsausrüster, eine Wäscherei, die einen vollgestopften, müffelnden Seesack, für 35 Lira (etwa einen Heiermann) in eine aprilfrische Wiese verwandelt. Der Supermarkt in der Marina ist gut sortiert und wenn dem Briten nach seinem Frühstücksbacon gelüstet, findet er auch das passende Stück Schwein in der Auslage. Es ist eine kleine heile Welt, in der jeder jeden grüßt, die Sicherheitsleute mit Golfcaddys über das weitläufige Gelände düsen - und auch weniger rüstige Senioren zu ihren Schiffen bringen. Das einzige Manko: Das Internet. Derzeit läuft es nicht, zumindest nicht mit Apple-Geräten. Sicherheitsleck. Man sei da dran, versichert die junge Dame im Marina-Office, in dem die netten Mitarbeiter jedes noch so kleine Problem ernst nehmen und versuchen, es bei einem Tee zu klären. Auch wenn nachts Wehwehchen auftreten, einfach funken: Kanal 73. „Wir schicken dann jemanden.“ Und auch Hypochonder können beruhigt sein: Das brandneue Krankenhaus liegt keinen Kilometer entfernt. 

 

Wenn ich morgens das Rollo von der Luke in meiner Kajüte löse, blicke ich auf einen blauen Himmel. Und auf Berge. Wellen klopfen sanft an den Rumpf, irgendwo kräht ein Hahn, den ersten Ruf des Muezzin vor Sonnenaufgang höre ich schon gar nicht mehr. Und wenn doch: Dann freue ich mich, schließe noch mal die Augen und denke an den ersten Kaffee des Tages an Deck. Noch ist das alles nicht Normalität, ich bin gespannt, ob und wann dieser Tag kommen wird.

 

Die Nächte sind mittlerweile frisch, aber selbst am frühen Morgen lässt es sich Anfang November in kurzer Hose und T-Shirt an Deck aushalten, ehe ab zehn Uhr schon der Platz im Schatten der Favorit ist. Baden, muss ich nicht sagen, kann man immer noch. Das Wasser ist noch herrlich warm. Und das sagt einer, der im Freibad naserümpfend erst einen Zeh langsam ins Wasser steckt, ehe er es wagt, Sekunden später, den ganzen Fuß zu versenken. 

 

Mark, der immer gut gelaunte Südafrikaner, grüßt zwei Boote weiter. Wie jeden Morgen: „What a beautiful morning! How you doing? Isn’t it a fantastic day?“ Sein Bootsnachbar, ein Brite, schnorrt gerade einen Kaffee bei ihm. Ken hat am frühen Morgen seine Katze, Margarita, zum Tierarzt gebracht. Eine Kolik. 

 

„Jens, halb elf Yoga neben dem Hafenbüro. Fantastic!“, ruft Mark. Ich winke ihm erst zu, dann ab: „Nächstes Mal!“ Erst muss ich noch mein Internet-Problem lösen. Nachdem ich viermal das maximale Datenvolumen von 15 Gigabyte gekauft und pulverisiert habe, hat mich Turkcell gesperrt. Komisches Businessmodell. Weiteres Datenvolumen kann ich nicht mehr kaufen. Das versteh wer will. Andernorts würde ich als Super-Kunde hofiert. Dass ich so viel Datenvolumen in so kurzer Zeit verballert habe, liegt auch ein bisschen an meiner Blödheit. Nichtsahnend schloss ich einige Zeit meine Kamera und die Drohne an das Laptop an, zog die Filme auf den Schreibtisch, um dann aus etlichen Minuten Material in höchster Auflösung einige wenige internetkompatible zu schneiden. Dass mein Computer automatisch beginnt, den ganzen Müll in die Cloud zu jagen, musste ich teuer bezahlen. Aber irgendwo da oben, auch das ist ein schönes Gefühl, tummeln sich jetzt ganz viele Videoschnipsel. 

 

Im Turkcell-Geschäft vor Ort lähmen mich meine auf Restaurant-Türkisch reduzierten Sprachkenntnisse von einer Problemanalyse. Englisch ist leider auch keine Option. Im Chat mit Turkcell wird mir erklärt, dass ich nur vier Mal das maximale Datenvolumen binnen von drei Monaten kaufen kann. Will heißen: Internet erst wieder in zwei Monaten. Keine sehr prickelnde Aussicht. 

 

Mein Plan: Ich kaufe eine weitere Prepaidkarte, was allerdings dem Verkäufer nicht so recht einleuchten will. Ich habe doch schließlich eine. Seine junge Kollegin atmet schwer, lässt sich dann aber doch davon überzeugen, mir eine weitere Karte zu verkaufen. Der Akt, eine Prepaidkarte zu bestellen, gleicht in etwa der Zulassung eines Autos in Deutschland. Fünf mal muss ich irgendwas unterschreiben, meinen Ausweis vorlegen, ihn dann neben mein Gesicht für ein Foto halten. Ganz wichtig sind auch Baba und Anne. Vater und Mutter. Zumindest deren Namen. Heinz-Dieter scheint in der Türkei eher ungewöhnlich, zweimal muss ich in Druckbuchstaben den Namen schreiben. Als Dank gibt es einen skeptischen Blick der Verkäuferin. 

 

 

Mit Schrecken erinnere ich mich noch an die leidvolle Erfahrung in Marmaris, als erst nach dem dritten Besuch im Geschäft, mein Internet laufen lernte. Und dort sprachen die Verkäufer sehr gutes Englisch. Als ich endlich meine zweite Karte habe, die ich gleich in das Modem lege, wundere ich mich über die flinken Finger des Verkäufers, der sofort die alte Karte vernichtet. NEINNNN! Er schaut mich verdutzt an. „Cöp!“, sagt er. Müll. Meinen Plan, sollte ich wieder mit einer Karte das Limit binnen drei Monaten ausschöpfen, wieder die andere Karte zu aktivieren, hat er wohl nicht ganz durchstiegen. Oder es gibt ein Gesetz, dass man nur eine Karte besitzen darf. Aber damit nicht genug, die neue Karte lässt sich nicht aufladen. Warum, weiß ich nicht. Wilde Telefonate folgten. Als mir wieder ein Stuhl gereicht und der nächste Tee serviert wird, weiß ich: Der Nachmittag wird lang. Insgeheim rechne ich damit, dass die nervösen Blicke der Verkäufer zur Straße mir verraten, dass sie auf die Polizei warten. Von „System-Probleme“ ist die Rede. Ich bin mir nicht sicher, ob sie Computersystem-Probleme meinen. Lieber frage ich nach meinem Ausweis, der immer noch hinter einem Schreibtisch liegt, und frage, ob es in Ordnung sei, morgen wiederzukommen. „Problem yok“, ruft der Verkäufer. „Kein Problem.“ Ich atme erleichtert auf. „Zahlen für die neue Karte?“ „Yarin! Yarin!“, wiegelt er ab. Morgen, morgen. Enttäuscht düse ich mit dem Roller zurück zum Hafen.  Merkwürdigerweise läuft das Internet dann abends doch plötzlich. Auch ohne gezahlt zu haben. Ich werde morgen aber mal lieber das Geld vorbeibringen. Ich bin sicher, ich war nicht zum letzten Mal in dem Geschäft. 

 

Mark lacht. „That’s Turkiye!“, ruft er in einer Mischung aus Englisch und Türkisch. Seit gestern besucht mein Bootsnachbar einen Türkischkurs in der Stadt. „Join us!“, ruft er. „It’s fun.“ Ich werde es tun. Nächsten Montag geht es los. Wieder Schulbank drücken. Aber als Gast in einem Land, wenn auch Urlaubsland, ist es das Mindeste, was man tun kann. Vielleicht kann ich dann auch meine Wlan-Probleme lösen. Mark bietet mir derweil an, mich in sein Wlan zu hängen („kostet doch eh kaum was“), aber ich lehne dankend ab. Gerne wäre ich autark. Schon am Mittag hatte er selbstlos seinen Roller zur Verfügung gestellt, nachdem er mich verschwitzt auf dem kleinen Bordfahrrad ohne Gangschaltung durch die Gegend strampeln sah. 

 

Als ich Mark den Schlüssel wiedergeben will, sitzt er in der Bar. Kaffee trinken hatte er gesagt. Jetzt süffeln er und Ken, der Brite von nebenan, an großen Halbliterflaschen. Es ist kein Kaffee. Ken zieht einen weiteren Hocker an den Tresen, bestellt sofort ein Bier für mich. 

 

Ein ganz normaler Tag in Kaş. Jeder hilft jedem. Ob es die Jungs aus der Bar sind, die eine Luftpumpe für den ermatteten Reifen meines Fahrrads auftreiben, oder die Segler untereinander. Fängt einer an zu werkeln, stehen die anderen parat. Nicht mit dummen Tipps, sondern mit Eifer. 

 

Kurz bevor ich mein Türkcell-Abenteuer am Nachmittag in Angriff nahm, stand plötzlich ein Türke vor der Dilly-Dally. „Hans?“, fragte er mich. „Jens“, korrigiere ich, typisch deutsch. Er hielt den Kopf schief. „Welcome, Hans!“, lächelte er und reckte den Daumen in die Höhe. Er liege am Steg gegenüber, erklärte er.  Ich lud ihn auf einen Kaffee ein, er lehnte ab. Er habe eine Verabredung. „Heute abend in der Bar?“, fragte er dann. Ich nickte. „Welcome!“, rief er nochmal und ging. Ein Stück weit werden auch seine Biere an dem dicken Kopf heute morgen Schuld haben. 

 

Es ist ungewohnt, so viele nette, respektvolle, hilfsbereite Leute auf einen Haufen zu treffen. Ich erinnere mich an Vereine in Deutschland, wo jeder Neue erstmal argwöhnisch beäugt wird. Dabei hat man doch das gleiche Hobby. Kein Wunder, dass einige Segelvereine gnadenlos überaltert sind und aussterben. Interessant ist auch, dass die Segler, je erfahrener sie sind, auf das ganze Segel-Schnickschnack keinen Wert legen. „Kenn ich, weiß ich, war ich schon“, gibt es nicht. Eher Bekenntnisse wie „eigentlich bin ich ja kein guter Segler“ oder „bei viel Wind geht mir die Muffe“. Sie lachen über ihre Missgeschicke und dann kommt beiläufig raus, dass sie schon zweimal über den Atlantik gesegelt sind oder seit vielen Jahren auf ihren Boot leben. 

 

Die Segler, die hier überwintern, kommen aus der ganzen Welt. An meinem Steg liegen Australier, Briten, Amerikaner, Dänen, natürlich Mark, der Südafrikaner, ein paar Deutsche und viele Türken - meist aus Istanbul. Sie alle eint eines: Die Freude am Segeln. Die Gemeinschaft. Die Einfachheit in all ihrem Luxus. Das Boot ist für sie kein Statussymbol, sondern Liebe und Lebenseinstellung. Sie sind sich nicht zu fein, jeden Morgen zum Duschen mit ihrem Kulturbeutel in der Hand in die sanitären Anlagen zu schlendern. Sie genießen die ersten Sonnenstrahlen des Tages auf dem Weg zu den sanitären Anlagen, stehen wie Schuljungen auf Klassenfahrt an den Waschbecken nebeneinander, tratschen, lachen und diskutieren über das neueste Restaurant oder den versackten Abend in der Hafenbar, teilen Duschgel und Rasierschaum. 

 

Viele könnten in Villen leben. Wie Mark. Seine Familie sei im Gummibusiness tätig, wie er abends an der Bar sagt. Sie macht in Reifen. Das Boot, auf dem er lebt, habe sein Vater 1984 bauen lassen. Ken, der Brite ist eigentlich Ingenieur, er lebt seit vielen Jahren in der Türkei. Er ist verheiratet mit einer türkischen Ärztin in Ankara. Sie haben mehrere Häuser in der Türkei. Gerade kommt er aus Belek von einem Golfturnier. Aber am liebsten wohnt er in Kaş - wahlweise auf seinem Schiff oder in ihrem Haus am Hang. 

 

Natürlich ist der fuc… Brexit auch ein Thema. Sein Urgroßvater, erzählt Ken, war Ire, wie er kürzlich herausgefunden habe. Deshalb hat er jetzt einen irischen Pass beantragt. Er will Mitglied in der EU bleiben. Wir sitzen an der Bar, trinken ein, zwei, drei Bier. Dann hören wir auf zu zählen. Der Brite muss gehen, Margarita vom Tierarzt abholen. Oder seiner Frau erklären, warum Margarita nicht mehr ist (sie ist noch, wie er gerade berichtete). Aber egal wie, morgen um elf („Gin-Time“) wollen wir segeln gehen.

 

Auf dem Tresen bettet sich gerade ein Yorkshire-Terrier-Mischling, sein Ohr liegt im Aschenbecher. Beck’s, der Kneipenhund, ein stattlicher Golden Retriever, tobt mit vier anderen Hunden wild umher. Niemand stört sich daran. Leben und leben lassen. Beck’s ist der Herr im Haus. Ob die anderen Hunde allerdings wissen, dass er gestern mit eingeklemmten Schwanz das Weite suchte, als eine Ente die Bar eroberte und erst zurückkam, als der Barbesitzer die Ente, ein Riesenvieh, schnappte und zum Wasser zurücktrug?

 

Die Bar ist gut besucht, ein paar Segler lungern am Tresen, an den kleinen Tischen sitzen aber vor allem Türken aus dem Ort. Ein paar sehen aus, als hätten sie ihrem Frisör ein Che-Guevara-Portrait als Vorbild gezeigt. Lässige Typen und hübsche Frauen, die so gar nichts mit dem Klischee gemein haben, das viele vor Augen haben, wenn sie „Türkei“ hören. 

 

Und die Segler? Sind sie alles privilegierte Typen? Einige sicherlich. Aber längst nicht alle. Ein gebrauchtes Schiff, groß genug zum Leben, kostet schließlich nicht mehr als ein neuer Passat. Die Lebenshaltungskosten in der Türkei sind verglichen mit Deutschland sehr günstig, auch wenn die Lira zum Euro wieder ein Viertel an Wert gewonnen hat. Immer noch kostet die Schachtel Kippen nicht mehr als 1,50 Euro und ein schönes Abendessen zwischen fünf und zehn Euro - auch in der Marina. Getränke inklusive. 

 

Im Stadthafen liegt eine australische Yacht. Es gehört einem Paar, das alle Habseligkeiten in Down-under verkauft hat, um sich ein Boot in Spanien zu kaufen. Ein Lebenstraum. Jetzt liegen sie in Kaş, abgebrannt aber glücklich. Und dann ist da der alte Brite, der mir im Vorbeigehen  auf die Schulter klopft. Er stellt sich nicht vor, sagt nur: „Du hast alles richtig gemacht. Du bist noch jung.“ (Okay, 46 Jahre alt). „Genieß es!“ Viel zu spät habe er sich entschlossen, seinen Traum vom Segeln zu erfüllen. Jetzt sei er alt. Dann humpelt er weiter. Ich drehe mich um. Er dreht sich um, er reckt den Daumen. Dann geht er weiter. Ich gehe weiter. In Momenten wie diesen denke ich, es ist der richtige Weg, 

 

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Kommentare: 1
  • #1

    Florian Krueger (Freitag, 07 Dezember 2018 23:34)

    Top Beitrag, danke fuers Mitteilen. Eine der schoensten Ecken der Welt. Geniesse es weiter.