Dilly-Dally-Diaries: Abgeliefert in Kaş

Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Dabei ist es erst knapp vier Wochen her, dass ich in Hannover zu schlaftrunkener Zeit in den Flieger nach Bodrum gestiegen bin. Knapp zwei Wochen lag ich in Marmaris, lebte mich auf der Dilly-Dally ein, verpasste ihr ein kleines Lifting. Der alten Lady gönnte ich ein ausladendes Heck, glänzend und kräftig genug, um stolz die Schlauchbootlippen zu schürzen.  

 

Immer noch wartete ich auf den Tag, an dem ich das, was ich hier machte, hinterfragen würde. Aber er kam nicht. Nicht einmal ansatzweise. Zu groß die Vorfreude. Zu nichtig das, was ich hinter mir gelassen hatte. Zu lecker das Essen. Zu nett und zuvorkommend die Menschen, die ich bislang getroffen habe. 

 

In die Türkei? Bist zu verrückt? Als Journalist? Der Dreiklang der Skeptiker hallte anfangs immer noch in meinen Ohren. Auch die Freunde, die mich auf der Dilly-Dally besuchen kamen, hatten ihre Zweifel. Die meisten waren noch nie in der Türkei gewesen. In ihren Augen sah das Land aus wie die dunkelsten Ecken Kreuzbergs, hörte sich nach tiefer gelegtem 3er BMW mit Sportauspuff an und die Frauen, die mit spätestens 14 zwangsverheiratet worden sind, wanderten wie abgehängte Vogelkäfige durch die staubigen Straßen.

 

Dass die Mittelmeerregion mit den gängigen Klischees nichts zu tun hat, war schnell klar. In Marmaris knattern türkische Mädels auf ihren Rollern durch die Straßen, in Hotpants, kürzer als man sie an den wärmsten Tagen in Deutschland sieht, verziert mit Tattoos, schöner als in Friedrichshain. Kippe im Mund, Handy am Ohr. Abends trifft sich die Jugend in Bars, trinkt Bier und Raki und hört Rockmusik. Das ganze nur viel entspannter als in Deutschland, freundlicher und auch respektvoller. Kein Pöbeln, kein Komasaufen. Einfach Lebensfreude. Wer auch nur ein paar Brocken Türkisch spricht, wird empfangen wie ein alter Freund. Und die Politik? Achselzucken! Ist halt so. 

 

Als sich der Plan auszusteigen in meinem Kopf manifestierte, sah ich mich in einem Innenhof eines kleinen Cafés sitzen, auf gemütlichen Polstern, vor kleinen Tischen. Pflanzen rankten die Mauern entlang, ein großer Baum spendete Schatten. Abends füllte sich der Innenhof, die Musik wurde lauter und aus dem Café wurde eine lebendige Bar. Hier würde ich schreiben. Und ich wusste auch schon genau, wo dieses verwunschene Café liegt. Hinter einem kleinen Durchgang am Stadthafen von Kaş, markiert mit einem schlichten Schild: Hideaway Bar & Café. Kaş, das war klar, würde der Ort sein, an dem ich auf dem Schiff überwintern würde. Seit meinem ersten Besuch 1992 ist Kaş für mich der schönste Ort der Türkei, fernab des Massentourismus, dafür beliebt bei Backpackern, Tauchern und Aktivtouristen. Da wollte ich hin. Nur musste ich erst noch dorthin segeln. Am besten mit einer erfahrenen Crew.

 

Spontan sagten Kai-Uwe Eilts und Sven Kraja bei der Strandsegel-WM in Sankt Peter-Ording zu, mich zu begleiten. Zwei gute Freunde, mit denen es nie langweilig wird. Zwei Pragmaten dazu, ausgebildet im Bootsbau bei der Norderneyer Edelwerft Dübbel & Jesse, wo sie sich vor vielen Jahren kennenlernten. Kai-Uwe war Svens Lehrmeister. Heute ist Sven Segelmacher in Schleswig, stattet mit seinen Frogsails die internationale Strandsegelszene und viele Wasseryachten aus. Kai-Uwe hält halb Norderney instand. 

 

Ein bisschen Bammel hatte ich schon. Nicht so viel, wie Sven vor dem Fliegen, aber immerhin ein bisschen. Davor, was die beiden an der alten Lady alles auszusetzen hätten. Davor, was sie finden würden. Wie ein Arzt, der, wenn er sucht, immer etwas findet. Die Segel, na klar, ließen Svens Mundwinkel nach unten sinken. „Da musst Du mal was machen. Die sind durch“, sagte er. Das war sogar mir klar. Maximal ein, zwei Jahre würden sie noch halten, bei leichten Winden, beruhigte er aber. Rastlos rasten die beiden schon am ersten Tag über das Deck, schraubten, lösten, tauschten laufendes Gut aus, so gut es ging. Setzen den Traveller instand, nähten, werkelten an der elektrischen Wasserpumpe und Schaltern mit Wackelkontakt, inspizierten den Motor und starrten ratlos auf den Kartenplotter, der nur ein Bild kannte, das an das Testbild nach Sendeschluss erinnerte, als es nur drei Fernsehprogramme gab. Oder Schneegestöber. 

 

Noch bevor Kai-Uwe den Schraubenzieher ansetzen konnte, hatte Sven einen Kumpel aus Schleswig an der Strippe, der sich mit Raymarine-Geräten auskennt und liebevolle Hinweise zur Reparatur gab. „Hau dreimal links oben gegen den Monitor.“ Und siehe da, das Schneegestöber löste sich auf. Zumindest für ein paar Sekunden. Aber die Diagnose war klar. Doch die Störquelle konnte nur durch eine Not-OP trockengelegt werden. Also legten die beiden wie ein Herzchirug das Innerste des Gerätes frei, schraubten an den Eingeweiden, legten einen Bypass und schon nach wenigen Minuten blinkte wieder das GPS-Signal in einer glasklaren Umgebung, die Marmaris zeigte.

 

Der erste Tag auf See endete nach einem Badestopp mit Ankerbier an der Pier der Tankstelle in Marmaris, um den Diesel zu versorgen und die Kanister mit Benzin für den neuen Außenborder zu befüllen. Die Tankwärter beömmelten sich über den Namen des Bootes. Dilly-Dally, Dilly-Dally. Bei Gelegenheit sollte ich vielleicht noch einmal googeln, ob der Name eine obszöne türkische Bedeutung hat. Wenige hundert Meter weiter machten wir für die Nacht direkt an der Promenade fest und erkundeten den Ort. Der Rest ist Vegas. 

 

Am nächsten Tag ging es meist unter Motor vor das Delta von Dalyan. Ankern vor Turtle-Beach, Beiboot testen, Bier im Beachclub, Schwimmen, Anker lichten, um ihn in der My Marina wieder fallen zu lassen (Hier das Video.) Eine herrliche Anlage mit tollem Restaurant. Vielleicht etwas teurer, aber jeden Cent wert (und im Vergleich zu deutsche Preisen immer noch spottbillig). Das Restaurant liegt etwa fünf Minuten den Hügel hoch, die Küche ist exzellent, der Fisch fangfrisch, der Service erstklassig. Kleine silberne Spiegel stehen auf den Tischen, darauf geschrieben der Bootsname. Etwas merkwürdig mutete daher der leicht schwankende Russe in nichts als einer neongrünen Badehose an, der gegen zehn Uhr im Restaurant auftauchte und Ewigkeiten auf ein Bild starrte, als verfolge er aufmerksam die neusten Nachrichten im TV. Der Rest seiner Crew grölte sich unten am Steg die Seele aus dem Leib - oder pinkelte an die Palmen. Bis spät in die Nacht. Umso erstaunlicher, dass die Flottille bereits am frühen Morgen die Bucht verließ. Wir machten uns weit später auf den Weg zum Golf von Fethiye. Das Meer war weit. Nur wenige Segler begegneten uns - und eine Meeresschildkröte, die gelangweilt neben uns auftauchte. 

 

Der Unsinn des Lebens: 75

75! Wahrscheinlich sogar mehr. Svens Haut las sich wie das Epos „Krieg und Frieden“ in Brailleschrift. Den Kampf gegen die Mücken hatte er eindeutig verloren. Dass noch einige Kapitel auf seinem Rücken geschrieben waren, konnte er nur erahnen. Nach drei Nächten Martyrium sah Sven keine andere Lösung. Er musste sich einen Mückenschutz bauen. Nur wie? Etwas ungläubig sah er mich, nachdem er anmerkte, wir müssten irgendwohin fahren, wo er ein Mückennetz kaufen könne und meine Antwort war: "Ach so, vorne liegen ganz viele." (Kann man ja mal vergessen). Sven konstruierte sich einen wunderschönen Schneewitchensarg, in dem er allerdings so aussah, wie von Biene Majas Erzfeindin Thekla eingesponnen. Auch dass die Mücken in der nächsten Nacht Svens Kniescheibe, die wahrscheinlich am Netz anlag, sieben Mal ansaugten, überraschte dann doch.

 

Für Kai-Uwe und mich war Svens Anziehungskraft auf die surrenden Viecher aber ein Geschenk. Wir blieben fast verschont. Von den Mücken - nicht aber von dem Gewitter, das sich auf dem Weg nach Kalkan über dem Meer aufbaute und sich über uns entlud (hier das Video). Mit Blitzen wie sie sonst nur Stroboskope in Vorstadtdiscos verfeuern. Und Sturm bis zu neun Windstärken. Natürlich direkt gegenan. Während Svens Blicke immer mehr die düstere Farbe des Horizonts annahmen, feierte Kai-Uwe jede Welle, jeden Blitz. „Ist das geil! Das ist ja so geil!“ Und in der Tat. Ebenso unbeeindruckt wie Kai-Uwe zeigte sich auch die Dilly-Dally, die mit ihren stattlichen 17 Tonnen Eigengewicht gemütlich durch das Unwetter schipperte wie ein Dampfer über den Wannsee bei Flaute.

 

In Kalkan belohnten wir uns mit einem  gediegenen Dinner über den Dächern der Stadt - Blick auf den Hafen inbegriffen. Und auf die Blitze, die immer noch über den Bergen niedergingen. Beim dritten Absacker in einer Hafenbar kam es dann zur Vereinigung. Aus zwei Gewittern wurde plötzlich ein großes. Sturmböen peitschten durch die engen Gassen, Wasser wie aus Eimern kübelte auf uns nieder.  Auf der Dilly-Dally löste sich die Bimini zur Hälfte, wütete  im Cockpit. Dann war das Gewitter, so schnell wie es gekommen war, auch weitergezogen. Zurück blieb ein reingewaschenes Schiff. Und eine neue Aufgabe für Kai-Uwe und Sven. Bimini reparieren!

 

Am nächsten Tag weckte uns die Sonne. Und das Pfeifen in den Wanten. Windfinder hatte fünf bis sechs Windstärken angesagt. Aus Westen. Achterlicher Wind bis zu unserem Ziel in Kekova, einer versunkener Stadt, 30 Meilen entfernt. Aber aus sechs wurden wieder bis neun Windstärken (hier das Video). Kai-Uwe fand die Tour noch „geiler“ als am Vortag, Sven hatte immer ein wachsames Auge auf die alten Segel. Die Genua hatten wir bis auf unter zehn Quadratmeter gerefft, das Groß eingerollt gelassen. Trotzdem pflügte die Dilly-Dally mit bis zu über acht Knoten durch das kristallklare Wasser, vorbei an der griechischen Insel Kastellorizio, raus aufs offene Meer, rein die Bucht von Kekova. Trotz Sturm gab es nicht einen Moment des Zweifelns. Die Moody machte Mut. 

 

Wer schaukelt so spät durch Nacht und Wind?

Hinter der Bucht von Kekova erstreckt sich eine zweite Bucht. Absolut geschützt, bester Ankergrund auf sechs Metern Tiefe. An der Kette tanzte die Dilly-Dally in den heftigen Böen eine Pirouette nach der anderen im aufgehenden Vollmond. "Sollte der Wind nicht längst nachgelassen haben?", fragte Sven. Ja, sollte er. Tat er aber nicht. Unvorhergesehen hatte sich ein Tiefdruckgebiet gebildet. Das Barometer fiel urplötzlich wie ein Bungeejumper von einer Brücke. Der Seewetterbericht sprach jetzt von Böen mit elf Windstärken - über 100 km/h wurden gemeldet. Die beiden Matrosen machten das Boot sturmsicher. Bauten Bimini und alles, was Angriffsfläche bot, ab. Ich kochte. Nicht vor Wut, sondern Pasta. Sven hatte Hunger. Als die ersten Böen mit weit über 40 Knoten auf die Dilly-Dally wie ein Vorschlaghammer hämmerten, hatte Sven den Appetit aber verloren. Der halbe Teller blieb unangetastet. Kai-Uwe nahm noch zwei Nachschläge, schnappte sich sein Buch und las. War gerade so spannend. Auch Sven versuchte zu lesen, versuchte zu dösen, versuchte, sich Mut zuzureden. Aus Deutschland erreichten uns über Whatsapp Satellitenbilder und aufmunternde Sprüche: "Müsste bald durch sein!" Aber immer, wenn wir glaubten, der Wind ließ nach, holte er nur Luft. Kai-Uwe las das nächste Kapitel. War eben spannend. Sorgen wischte er weg. „Wieso, wenn der Anker jetzt vier Stunden gehalten hat, warum sollte er dann nicht noch weitere vier Stunden halten?“ Nächste Seite. Und in der Tat: Der Anker hat nicht einen Meter nachgegeben, sich komplett eingegraben - wie wir am nächsten Morgen der dicken Schlammschicht entnahmen, die bis zur Kette klebte. Erst gegen halb zwei Nachts fand auch Sven in den Schlaf. Am nächsten Tag war die See wie glattgebügelt.

 

Wir motorten nach Kaş und machten im Stadthafen fest. Endlich angekommen (hier das Video). Der Ort sah noch genauso aus wie beim letzten Besuch vor drei Jahren. Kai-Uwe und Sven waren begeistert. Von den Bars, den Beachclubs, den Tauchern, von denen an diesem Wochenende 1000 im Ort sein sollten, von der entspannte Stimmung im Ort. Zum Sonnenuntergang kletterten wir auf das Amphitheater, stießen auf eine tolle und abenteuerliche Reise an. „Abgeliefert“, sagte Sven. Am nächsten morgen mussten die beiden um sieben Uhr das Taxi zum Flughafen nehmen. Als wir durch die engen Gassen der Alstadt schlenderten, vorbei an dem großen Sarkophag, telefonierte Kai-Uwe noch mit Norderney. „Nächstes Jahr fahren wir in die Türkei. Nach Kaş. Mit dem Bus…….. ja, klar, 3300 Kilometer. Du, das sind nur 36 Stunden Fahrt.“ Sven will schon eher wiederkommen. Vielleicht Weihnachten.

 

Vielen Dank an die beiden! War eine klasse Woche! Und mit niemand anderem hätte ich die Erlebnisse dieser Tage erfahren wollen. Wahrscheinlich kann ich noch die nächsten Jahre sagen: Ach, das ist doch gar nichts. Damals, mit Sven und Kai-Uwe.... Ein gutes Gefühl!

 

 

 

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