Ich habe aus Afghanistan über die Isaf-Mission berichtet, knapp zwei Jahre in Palästina gelebt, war mit einem alten klapprigen Wohnmobil in den Nahen Osten gefahren. Im Gazastreifen habe ich den Hamas-Gründer Scheich Ahmed Yassin interviewt, als er ganz oben auf der Most-Wanted-Liste der Israelis stand und wenig später von einer Rakete pulverisiert wurde. In New York habe ich ehemalige Banker von Lehman Brothers aufgespürt, um mit ihnen über die Jahrhundertpleite zu sprechen, einem Schweizer Whistleblower, der sich auf Mauritius versteckte, eine Steuer-CD aus den Rippen geleiert. Und plötzlich bin ich nicht in der Lage, zum Supermarkt zu gehen. Der Körper - und vor allem der Kopf - streikte.
Das ist schwer zu verstehen, hat man es nicht selber erlebt. Aber es ging einfach nicht. Zu den Panikattacken hatte sich eine ausgeprägte Agoraphobie gesellt, die aus meiner Wohnung ein Gefängnis machte. Es gab Tage, an denen ich drei oder vier Anläufe brauchte, um überhaupt aus dem vierten Stock in den Hof zu kommen. Sperren überall. Wenn ich es überhaupt schaffte zum Auto zu kommen, um zum gerade mal 400 Meter entfernten Supermarkt zu fahren (gehen oder Radfahren wäre unmöglich gewesen), dann war das schon ein Erfolg. Aber es hieß noch lange nicht, dass ich es auch in den Supermarkt hinein geschafft hätte. Oft reichte der Anblick der Tür zum Auslösen einer Panikattacke. Rückwärtsgang. Zurück zur Wohnung. Und hoffen, dabei nicht zu kollabieren.
Weihnachten saß ich alleine zu Hause, weil ich es nicht aus der Tür schaffte. Das gleiche an Silvester. Es war klar, so kann es nicht weitergehen. Nur einer Freundin ist es zu verdanken, dass ich es überhaupt hin und wieder aus dem Haus schaffte. „Ich komme Dich nicht mehr besuchen“, sagte sie. „Treffen finden nur noch irgendwo draußen statt.“ Und in der Tat, es klappte. Zwar mit viel Überwindung und Mühe. Und auch nicht immer. Aber meistens. Ich merkte, dass ich gegen die Ängste ankämpfen kann. Wenn ich denn will. Wenn da etwas ist, was ich wirklich gerne machen möchte.
In dieser Zeit entdeckte ich die Webseite von der „SV Delos“. Zwei Brüdern, die mit ihren Freundinnen und Freunden seit neun Jahren um die Welt segeln. Ich war fasziniert von den Filmen, die sie ins Netz stellten. Einen nach dem anderen schaute ich mir an. 180 Filme. Ich war so begeistert von den Jungs und Mädels, dass ich über die sie einen Artikel für das Wirtschaftsmagazin Capital geschrieben habe. Den die Crew lebt nicht nur ihren Traum, sie lebt auch von ihrem Traum. Wie, das war selbst für ein Wirtschaftsmagazin interessant.
Von Klein auf habe ich alle meine Urlaube auf Schiffen verbracht. Meine Eltern hatten ein Segelboot. Erst eine Neptun 22, später eine Arkona 32. Aber weil das Segeln mit Eltern für einen Teenager dann doch etwas anstrengend sein kann, machte ich mit 16 Jahren die notwendigen Segelscheine, um selbst mit Freunden auf der Ostsee segeln zu gehen. Meine Eltern vertrauten mir ihr Boot an. Und bereuten es immer wieder aufs Neue. Mal war ich beim Anlegen in einem Sturm gegen den Steg gebrettert (Vor- und Rückwärtsgang liegen aber auch dicht beisammen), mal war die Sprayhood eingerissen, mal der Motor defekt, mal eine Luke zerbrochen. Und einmal sogar der Salontisch, als eine Welle meinen Mitsegler aus dem Gleichgewicht hob und auf den Tisch krachen ließ. Kann ja alles mal passieren.
Selbst als ich in Würzburg studierte, ging es nicht ohne Schiff. Ich kaufte mir erst einen Korsar, dann einen 505er, dann einen 15er Jollenkreuzer. Als ich nach Hamburg zog, segelte ich auf der Alster. Und entdeckte das Strandsegeln für mich. Mittlerweile habe ich meine dritte Strandsegel-Yacht und an mehreren Europa- und Weltmeisterschaften teilgenommen, wobei das Ziel jeweils die Qualifikation war. Bei den Titelkämpfen selbst habe ich meist das Feld erbarmungslos vor mir hergetrieben. Mehr als ein vorderer Platz im letzten Drittel war meist nie drin. Und auch auf meiner letzten Station in Berlin dauerte es nicht lange, bis ich mir einen 20er Jollenkreuzer an den Müggelsee legte. Zudem charterte ich mit Freunden 13 Jahre lang eine Yacht im Mittelmeer. Balearen, Kroatien, Griechenland - meist aber in der Türkei. Dort fanden wir es immer am schönsten.
Als ich nun da lag, auf dem Sofa, gefangen in mir selbst, und die Videos der „Delos“ anschaute, wuchs die Sehnsucht in mir. Aus dem Gedanken auszusteigen, alles über Bord zu werfen, um an anderer Stelle Anker zu werfen, wurde ein Plan. Und der Plan machte mir Mut - die Lethargie wich Leben. Tage- und nächtelang kalkulierte ich. Kann ich mir einen Ausstieg leisten? Und womit verdiene ich meine Brötchen? Da ich nicht viel mehr kann, als zu schreiben, man das aber von jedem Ort der Welt aus machen kann, fiel der Schlussstrich nicht schwer. Zudem konnte ich meine Wohnung verkaufen, die sich seit meinem Umzug vor vier Jahren bereits im Preis verdoppelt hatte. Je konkreter meine Pläne wurden, um so besser fühlte ich mich. Als ich Anfang März wieder in den Job zurückkehrte, hatte ich im Kopf längst gekündigt. Kurze Zeit später machte ich es offiziell. Es war wie eine Befreiung.
Kommentar schreiben